Chronik Karl Lechte 1968

Aus: Karl Lechte, Die Geschichte der Stadt Hardegsen, 1968

Die Kirche hatte ursprünglich vier Glocken. Die große Glocke ... ist die älteste. Sie entging wegen ihres Alters und ihres geschichtlichen Wertes im Ersten und auch im Zweiten Welt­kriege der Beschlagnahme, während die drei anderen ihr zum Opfer fielen. Zwei durften, wie weiter unten zu lesen sein wird, wieder in die Heimat zurückkehren. ...

Diese (Anm.: „große“) Glocke ist danach im Jahre 1505 gegossen worden. Das war in dem Jahre, da Martin Luther Mönch im Augustinerkloster zu Erfurt war. Hardegsen stand damals unter der Führung des Bürgermeisters Heinrich Moldemann, unter dem das Rathaus erbaut wurde. Katholischer Geistlicher zu jener Zeit war Albert Scheelen. Im Jahre 1955 hätten wir also das 450jährige Jubiläum unserer großen Glocke feiern können. Über viereinhalb Jahrhunderte hat sie ernst und gewichtig ihre Stimme ertönen lassen und hat mit ihrem Klang die Herzen der alten Geschlechter ergriffen und die Gemeinde zu den Gottesdiensten gerufen. In alter Zeit hat sie Sturm geläutet bei den zahlreichen Feuersbrünsten, die Hardegsen wiederholt in Not brachten und sogar ganz in Asche legten. Sie hat Krieg und Frieden verkündet ...

Unsere große Glocke zeigt ... vier bemerkenswerte Bildwerke:

1. die Mutter Maria mit dem Christuskind,
2. Sankt Anna, die Mutter der Jungfrau Maria; diese mit dem Jesusknaben auf den Armen neben ihr,
3. den heiligen Georg, den Drachen tötend, dem ja die Kapelle neben dem Glockenturm geweiht ist,
4. den heiligen Mauritius, mit der Fahne in der Hand. 

Die kleine Läuteglocke hatte bis zum Jahre 1917 ihren Platz in einem der Schallöcher. Diese unsere kleinste Glocke mit ihrem hellen Klang läutete am Sonnabend 6 Uhr den kommenden Sonntag ein und kündete am Feiertagsmorgen mit ihrem Frühgeläut den in einer Stunde beginnenden Gottesdienst an. Bei ernstem Geläut schwieg ihr metallener Mund.

Sie wurde nach der Inschrift von Meister Heinrich Lütke 1660 in Göttingen gegossen. ...

Im Juni des Kriegsjahres 1917 wurde diese kleine Glocke von ihrem friedlichen Platz in der Höhe des Turmes heruntergenommen und für den Kriegsdienst abgeliefert. ...Am 17. Juni läuteten von 12-1 Uhr mittags alle Glocken zum Abschied. Auf dem Kirchplatze versammelte sich die Gemeinde, um unter Gesang und Gebet und stimmungsvollen, ernsten Worten des Superintendenten Übbelohde Abschied zu nehmen von der hell klingenden kleinsten Läuteglocke. ...

Sie wurde bislang nicht wieder ersetzt. 

Die dritte (Anm.: die mittlere Glocke) ist die sogenannte „Ertinghäuser Glocke“. Der Überlieferung nach soll sie aus der früheren Kirche in Ertinghausen stammen. Sie trägt keinerlei Inschrift und keine Verzierungen. Der Größe nach müßten wir sie als die zweite Glocke bezeichnen. ... Im Februar 1942 ... wurde sie abgeliefert, um als Kriegsmaterial in Form von Kanonen, Granaten oder Bomben Verwendung zu finden.

Außerhalb des Turmdaches hing die 4. Glocke, die nach Domeier 1658 zu Göttingen gegossene Uhrglocke. Sie war ohne Inschrift. Diese 3 Zentner und 60 Pfund schwere Glocke mußte im März 1942 auch abgenommen und abgeliefert werden. Damit das Schlagen der Turmuhr nicht wegzufallen brauchte, sind an ihrer ehemaligen Stelle zwei Metallröhren angebracht worden.

Nun mußte die große Glocke den Dienst in der Gemeinde allein versehen. Die etwa 400 Jahre alte Ertinghäuser Glocke, die hier im Hardegser Kirchturm mit der großen Schwester den 30jährigen Krieg überstand und jetzt mit der Uhrglocke dem schrecklichsten aller Kriege dienen sollte, konnte nicht ahnen, daß sie doch die Heimat einmal wiedersehen sollte.

Beide gehörten zu den Glocken, die in besonderen Glockenlagern vor dem Schicksal des Einschmelzens bewahrt geblieben sind. Bei Kriegsende fanden sich unsere Glocken noch ... in einem Hamburger Lager. Von hier aus traten sie wieder den Weg in die Heimat an. ... Am 28. August 1947 wurde sie von Hannover zurück­geholt, und am nächsten Tage konnte sie wieder ihren alten Platz neben der großen Glocke einnehmen. Nach 5 1/2 Jahren ertönte dann am 31. August 1947 von unserm Kirchturme wieder das altgewohnte volle Geläut. Die kleine Uhrglocke konnte im Herbst 1948 auch wieder in die Heimatkirche zurück­kehren. So hatte ein gnädiges Geschick unsere beiden Glocken davor bewahrt, Not und Leid und Trauer unter die Menschen zu bringen. Sie, die fast 300 bzw. 400 Jahre (Anm.: laut Sachverständigengutachten 700 Jahre) die Gemeinde in Freud und Leid begleitet hatten, konnten nun wieder zur Andacht rufen und ihre Stimme zur Ehre Gottes erklingen lassen.